Meldungen aus dem Kreisverband Paderborn
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Europa als Friedensprojekt

Vortrag von Bernd Mütter (stellvertretender Programmdirektor des Fernsehsenders ARTE) bei der Zentralen Gedenkfeier des Kreises Paderborn zum Volkstrauertag am 13. November 2016

Meine Damen und Herren,

wir sind heute hier zusammen gekommen, um der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft zu gedenken. Wir denken an die Opfer des Krieges in Syrien, in der Ukraine und an vielen anderen Orten der Welt. Wir gedenken der Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, die bei Auslandseinsätzen zu Schaden oder ums Leben gekommen sind. Und wir gedenken der Menschen, die heute vor einem Jahr in Paris bei den grauenhaften Terroranschlägen auf unsere Art zu leben getötet wurden.

Wir gedenken aber auch und vor allem der Opfer des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft: Opfer der rassistischen und ideologischen Verfolgung, der Zivilisten, die beim Bombenkrieg ums Leben kamen, der Gefallenen wie jenen Soldaten, die hier in Böddeken auf dem Soldatenfriedhof liegen und die – im Frühjahr 1945 gestorben – zu den letzten Kriegstoten des untergehenden Dritten Reiches gehörten. Junge Männer, die das Leben noch vor sich gehabt hätten. Väter, deren Frauen sich im Chaos der Nachkriegszeit ohne Mann durchschlagen mussten, deren Kinder ohne aufwuchsen.

Angehörige meiner Generation kennen den Krieg nur aus dem Fernsehen. Für die meisten von uns gehört persönliche Kriegserfahrung lange der Vergangenheit an. Seit mehr als 7 Jahrzehnten herrscht in Mitteleuropa Frieden. Er ist für uns fast zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Und vielleicht fragen wir genau deshalb zu selten nach der Ursache dieses Glücks.

Nach Jahrhunderten blutiger Völkerfeindschaft auf dem alten Kontinent ist in Europa gelungen, was an vielen anderen Orten der Welt noch nicht gelungen ist: Die Überwindung der Feindschaft, die Schaffung von Respekt, Zusammenarbeit und Freundschaft unter den Völkern.

Den Frieden in Europa verdanken wir auch und in besonderer Weise der Idee eines geeinten Europas. Und die Einigung Europas ist vor allem anderen ein Friedensprojekt.

Das so zu betonen, ist keine Kleinigkeit: Der erste und wichtigste Sinn des vereinten Europas ist der Frieden. Alle weiteren Ziele der europäischen Einigung, vor allem Freiheit und Wohlstand für alle, ergeben sich erst als eine Folge daraus.

Heute, am Volkstrauertag 2016, daran zu erinnern, hat seinen Grund: In den letzten 1½ bis 2 Jahren hat sich die Kritik an der europäischen Einigung so heftig artikuliert, wie wohl noch nie seit der Gründung des Europarats 1949. Ein Mancher meint, Grenzen und Abgrenzungen zwischen den Ländern Europas, nationale Größe und Besserwisserei würde das Leben auf diesem Kontinent einfacher, übersichtlicher, freier, stolzer machen. Historisch betrachtet: ein Irrtum.

Selbstverständlich kann man trefflich darüber streiten, ob die europäischen Institutionen den Herausforderungen der heutigen Zeit gewachsen sind, ob ihre Prioritäten richtig sind, was sie antreibt, wo sie versagen und wie ihre Entscheidungen fallen. Das sind wichtige Fragen aus dem politischen Alltagsgeschäft – aber klein, im Vergleich zur großen zeithistorischen Wende hin zum Frieden, die die europäische Einigung gebracht hat.

Die Idee des geeinten Europa als Werte- und Kulturgemeinschaft unterschiedlicher Völker ist keine neue Idee. Sie taucht schon im 15. Jahrhundert auf und wurde in wechselnden Ausprägungen von verschiedenen Geistesgrößen wie Papst Pius II. oder dem französischen Schriftstellerphilosophen Voltaire beschrieben. Sie ist also älter des modernen Nationalstaates, die sich erstmals in der französischen Revolution Geltung verschafft hat und das 19. und 20. Jahrhundert dominierte, bevor sie in der Weltkriegsepoche ihre katastrophale Übersteigerung erlebte.

Die Idee von Europa blieb wie die Idee des Nationalstaates zunächst ein Phänomen der Eliten: Wer in der breiten Bevölkerung hatte schon das Glück die Sprachen der anderen Länder Europas in der Schule zu lernen? Und wer konnte es sich finanziell schon leisten, dorthin zu reisen?

Es waren jeweils die jungen Menschen nach den beiden Weltkriegen, die sich den anderen Ländern zuwandten. Mein eigener Großvater hatte 1926 mit 18 Jahren Kontakt zu einer Gruppe junger Franzosen in Marseilles, die die Völkerfeindschaft überwinden - und wie er formulierte „für die Vereinigten Staaten von Europa arbeiten“ wollten.

Wenige Jahre später setzte sich in Deutschland dann doch wiederum der Hass und die Sehnsucht nach Revanche für die Niederlage im Ersten Weltkrieg durch. Hitler wurde Reichskanzler und brach den Zweiten Weltkrieg vom Zaun, der das Grauen durch Bombenkrieg und Völkermord noch einmal ins Unermessliche steigerte.

Noch während das Morden andauerte, dämmerte vielen, dass der Nationalismus die Menschheit in den Abgrund geführt hatte. So unterschiedliche Leute wie der Widerstandskämpfer Hellmuth James Graf von Moltke und das (kommunistische) Buchenwaldkommitee kamen unabhängig voneinander zu dem Schluss: Der europäische Kontinent hat nur eine Zukunft, wenn sich die Völker verbrüdern.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren es dann wiederum die jungen, die optimistischen Leute, unter ihnen der spätere Bundeskanzler Helmut Kohl, die loszogen und die Grenzbäume stürmten. Ein halbes Politikerleben später riss diese Generation, die den Zweiten Weltkrieg als Jugendliche und junge Soldaten noch selbst erleben hatte, die Grenzen in Europa durch Verträge ein.

1985/6 wurde in Schengen das grenzenlose Europa vereinbart, 1987 wurde ERASMUS gegründet, ein Programm, durch das seitdem drei Mio. junger Europäer während Ausbildung oder Studium in ein anderes Land gehen konnten, um dort Erfahrungen zu sammeln.

Was hat Schengen – was hat das ERASMUS-Programm mit dem Gedenken an die Gefallenen hier auf dem Soldatenfriedhof von Böddeken zu tun? Nicht wenige der Toten, die hier liegen, waren in einem Alter, in dem heute junge Leute über ERASMUS oder andere Programme in andere Länder gehen und dort eine Erfahrung machen, die den hier Liegenden verwehrt geblieben ist: Vielfalt ist Reichtum.

Vielfalt ist Reichtum – das ist die Grundüberzeugung hinter der europäischen Einigung. Ein langjähriger französischer ARTE-Kollege sagte immer: „Deutsche – das sind keine Franzosen, die einfach nur deutsch sprechen.“ Und ich kann Ihnen das auch umgekehrt nur bestätigen: „Franzosen – das sind keine Deutschen, die einfach nur französisch sprechen.“

Nein. Die kulturelle Prägung durch Erziehung, Sprache, Medien will es, dass Verhaltens- und Sichtweisen, Erfahrungen und Erwartungen bisweilen sehr unterschiedlich sind. Und auch wenn es anfangs schwierig ist, damit umzugehen – so ist es doch eine bereichernde Erfahrung. Es ist eine Erfahrung, die zeigt, dass es in vielen Situationen mehr Betrachtungsweisen, mehr Interpretationen, mehr Handlungsoptionen gibt, als man instinktiv denkt.

Das gemeinsame Voranschreiten, das gegenseitige Inspirieren ist kein Verrat an den eigenen Wurzeln. Nur wer weiß, woher er kommt, ist selbstbewusst genug, etwas Neuem und Ungewöhnlichem mit Offenheit und nicht mit Angst zu begegnen.

Und es ist eine Erfahrung, die auch tief in der deutschen Geschichte verankert ist: Die Deutschen besaßen ja nicht immer das Zusammengehörigkeitsgefühl unserer Tage. Noch vor gut 100 Jahren waren die kulturellen Prägungen zwischen Flensburg und Garmisch-Partenkirchen mindestens ebenso unterschiedlich wie heute zwischen Paderborn und Le Mans.

Natürlich erleichterte die gemeinsame Sprache die Verständigung der Deutschen bei ihrer Einigung. Der in diesem Jahr verstorbene Schriftsteller Umberto Eco hat den Satz geprägt: „Die Sprache Europas ist die Übersetzung.“

Und Übersetzen – das heißt ja nicht nur, die Wörter der einen Sprache in die andere zu übertragen – nein, es heißt die Gedanken des einen für den anderen verständlich zu machen. Nichts anderes haben Schengen und ERASMUS in den letzten Jahrzehnten erreicht. Ohne europäischen Geist aber sind sie sinnentleert: Ihnen geht das Fundament verloren, wenn die Völker am Ende nur ihrem eigenen Egoismus und dem „Recht des Stärkeren“ folgen wollen.

Natürlich brauchen wir Völkerverständigung und Ausgleich nicht nur mit den europäischen Nachbarn. Aber wir brauchen sie hier besonders: Nirgendwo auf der Welt leben so viele Menschen auf einem so kleinem Raum, der durch so viele historisch gewachsene Grenzen getrennt, aber durch einen so großen kulturellen und literarischen Schatz geeint ist.

Sich das bewusst zu machen, heißt nicht, die ungelösten Probleme, Fehler und Herausforderungen Europas wegzureden. Es heißt, sie ins rechte Lot zu rücken: Wenn ich das sage, dann geht es mir nicht darum, die ungelösten Probleme, Fehler und Herausforderungen Europas wegzureden. Es geht mir darum, sie ins rechte Lot zu rücken.

Wer glaubt, Briten, Ungarn, Franzosen und Deutschen ginge es besser allein als im Verbund, in der Verständigung und in der Solidarität mit anderen Europäern – wer glaubt, auf dem Basar der Völkerinteressen immer das Beste für das eigenen Land herausholen zu müssen, der macht es sich nicht nur zu einfach – der unterschätzt auch, wie wichtig und zugleich schwierig es ist, den Frieden zu erhalten.

Um das Jahr 1900 war es möglich, ohne Passformalitäten von Lissabon bis nach Berlin zu reisen. Damals war Europa nicht grenzenlos, aber die Grenzen waren durchlässig. Es vergingen keine 15 Jahre und der Kontinent versank im bis dahin mörderischsten Krieg, der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts.

Heute ist der Tag daran zu erinnern, welchen Preis die Völker zahlen müssen, wenn sie nicht die Verständigung, sondern die Konfrontation als Lösung ihrer Probleme ansehen, wenn sie Vielfalt nicht mehr als Reichtum, sondern als Bedrohung begreifen.

Völkerverständigung ist oft langwierig und kompliziert – und sie passt zumeist auch nicht in die 140 Zeichen einer Twitter-Nachricht. Sie kennt nicht die Bilder stolzer Feldherrn, die als Sieger das Schlachtfeld verlassen.

Und doch ist sie nicht weniger wirkmächtig als die Konfrontation: Experten schätzen, dass aus den gemischt-nationalen Liebesbeziehungen und Ehen, die sich dem ERASMUS-Programm verdanken, inzwischen eine Mio. Babies geboren wurden. Eine Mio. Babies, die mit ihrer schieren Existenz beweisen, dass Vielfalt Reichtum ist.

Wer heute hier vor diesen Soldatengräbern steht, der spürt, dass die europäische Einigung eine Erfolgsgeschichte ist. Nie zuvor während der letzten fünfhundert Jahre herrschte so lange Friede unter den Völkern. 7 Jahrzehnte Frieden sind ein Grund, wie ich finde, stolz zu sein. Und sie sollten uns zugleich eine Mahnung für die Zukunft sein. Das sind wir den Toten der Weltkriege schuldig.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!